Der Weg des Yamanni Chinen Ryu

Interview mit Shihan T. Oshiro

DT: Wo und wann wurden Sie geboren?
TO: Ich wurde am 01. Mai 1949 in Haneji, Okinawa in Japan geboren.

DT: Wann haben Sie mit dem Karate-Training begonnen? Haben Sie sich in Ihrer Jugend ausschließlich mit der Kampfkunst beschäftigt?
TO: Ich begann mit 16 Jahren, aber genau genommen hat mich mein Sempai bereits in der Grundschule mit 8 oder 9 Jahren Karate und Bujutsu gelehrt. Also könnte man sagen, dass ich schon mit acht Jahren angefangen habe. Aber es war kein Training wie in den Dojos. Es war eher so wie wenn Kinder heute Basketball oder Fußball spielen.

DT: Hieß es damals schon Shorin-ryu?
TO: Nein. Ich wünschte, ich könnte mich an die Kata erinnern, die sie mich gelehrt haben. Es war eine Mischung aus Pinan und Naihanchi Katas aber ich weiß nicht, wer diese Kata entwickelt hat. Nach dem zweiten Weltkrieg waren viele Karatekas aus Okinawa Kriegsgefangene und eines von diesen Militärgefängnissen war in der Nähe von Haneji. Ich nehme an, dass einer von ihnen das Karate in unserer Stadt eingeführt hat.

DT: Wer war Ihr erster Karate Sensei? Haben Sie auch bei Nagamine Sensei trainiert? Haben Sie in seinem Dojo gelernt?
TO: Mein erster und Hauptkarate Sensei war Shima Masao. Ein Jahr nach dem ich seinem Dojo beigetreten war, empfahl er mir im Hombu Dojo zu trainieren. Nachdem ich den schwarzen Gürtel ablegte, wurde ich Trainer-Assistent und danach Trainer. Aber eine Gruppe zu führen ist nicht das gleiche wie Karate lehren. Das sind zwei ganz verschiedene Dinge!
Shima Sensei lehrte mich viele Katas (von Fukyo gata bis Chinto).
Im Hauptquartier lernte ich bei Nagamine Sensei, Kushi Sensei, Yamaguchi Sensei, und Nakamura Sensei die Chinto Kata. Besonders bei letzterem trainierte ich diese Kata sehr intensiv.

DT: Wann trafen Sie auf Kishaba Chokei Sensei?
TO: Ich lernte ihn kennen, als ich den braunen Gürtel machte. Aber das ist nicht mit dem modernen Gürtelsystem zu vergleichen. Damals gab es ein anderes System. Wir trainierten Tag und Nacht, sieben Tage in der Woche. Ich erwarb den braunen Gürtel innerhalb von einem Jahr.
Shima Sensei gründete sein Dojo zusammen mit Taba Sensei und Kishaba Sensei. Taba und Kishaba gingen dann nach Japan und Shima Sensei leitete die Schule allein weiter. Als ich den braunen Gürtel machte, kam Kishaba Sensei zurück: so traf ich ihn. Zu diesem Zeitpunkt begann er uns zu trainieren, aber Shima Sensei war trotzdem mein Hauptlehrer. Von ihm habe ich die Basis und Techniken meines Karate.
Durch Kishaba Sensei erwarb ich großes Wissen und verfeinerte meine Techniken.

DT: Wo haben Sie trainiert?
TO: Das Training war sehr persönlich. Wenn der Sensei wahrnahm, dass ein Student wirklich lernen wollte, nahm er ihn nach dem Training mit nach Hause und brachte ihm mehr bei.

DT: Wann trafen Sie Chokei Senseis Bruder Chogi, Ihren Yamanni-ryu Lehrer?
TO: Shima Sensei erzählte oft von Choki Kishaba Sensei und Chokei Sensei redete ebenfalls oft über seinen Bruder: Er wäre ein wirklicher Meister des Bojutsu. Als Kishaba Chokei Sensei aus Japan zurückkehrte, hatte er keine Bleibe und so wohnte er bei seinem Bruder, zu dem ich damals immer ging, um Karate zu trainieren.
Es dauerte allerdings acht Jahre bevor ich selbst Meister Chokis Bo-Technik mit eigenen Augen sehen durfte und merkte, wie verschieden sie von den Techniken anderer Leute war.

DT: Hatten Sie davor schon von Yamanni-ryu gehört?
TO: Ich habe nie davon gehört. Ich hörte dieses Wort zum ersten Mal von Kishaba Sensei selbst. Andere Meister jedoch kannten Yamanni-ryu. Ich hingegen war bloß ein kleiner Junge, der nichts davon wusste.

DT: Hat Kishaba Sensei zu dieser Zeit aktiv Yamanni-ryu gelehrt?
TO: Ich weiß es nicht. Eines ist jedenfalls klar: jedes Mal, wenn ich zu ihm zum Training gekommen bin, war ich der einzige Student dort.

DT: Hat Kishaba Sensei Sie sofort aufgenommen / akzeptiert oder gab es so etwas wie einen Aufnahmetest oder Wartezeit?
TO: Ich durfte mit ihm trainieren, weil ich ihm von seinem Bruder empfohlen wurde.

DT: Haben Sie zu dieser Zeit auch gearbeitet
TO: Ich habe im Polizeirevier gearbeitet.

DT: Ist Kishaba Sensei der alleinige Nachfolger von Masami Chinen, der Gründer von Yamanni-ryu, oder gibt es auch noch andere Lehrer?
TO: Ich glaube, es gab auch andere Yamanni-ryu Ausbilder. Sie lernten die Kunst von Masami Chinen oder seinem Großvater Sanda, aber ich hörte, dass nur Kishaba Sensei selbst alle Yamanni-ryu Katas kannte. Andere Leute mögen von Masami Sensei oder Sanda Sensei gelernt haben, aber wie viele von diesen Leuten können behaupten, dass sie tatsächlich etwas von ihnen gelernt haben? Niemand kann Anspruch auf Menkyo Kaiden erheben, weil es das nicht gibt. Dieses Wort existiert nicht einmal in der okinawanischen Sprache.
(Menkyo Kaiden bedeutet soviel wie das Übergeben aller Geheimnisse eines Stiles vom Meister zum Schüler).

DT: Können Sie uns etwas über eine typische Trainingseinheit mit den Kishaba Brüdern erzählen?
TO: Es kam niemals vor, dass ich in derselben Nacht mit ihnen beiden trainierte. Ich habe also zum Beispiel von 20.00 bis 21.30 Uhr im Dojo trainiert und bin erst anschließend zum Bojutsu-Training zu Kishaba Chogi Senseis Haus gegangen. Hin und wieder habe ich im Hombu Dojo trainiert und anschließend mit Chokei Sensei. Die Einheiten waren getrennt voneinander. Für gewöhnlich habe ich Bojutsu mit Chogi auf seiner Veranda trainiert. Es war dunkel draußen, aber wir hatten etwas Licht. Ich konnte sehen, was er mir zeigte, aber meistens hörte ich nur seinen Bo die Luft durchschneiden. Seine Technik war sehr schnell und er hätte sie meinetwegen niemals langsamer durchgeführt. Er hatte aber dieselbe Technik in der gleichen Art und Weise wiederholt. Anders war es, wenn er die Kata lehrte: Er hat sie mir auch langsamer gezeigt, jedoch ohne etwas zu erklären. Er sagte bloß: „Mach es so!“. Ich habe bis heute noch nicht all seine Techniken gelernt. Ich denke, er hat mehr zu lehren.

DT: Mussten Sie viel für sich alleine trainieren und erforschen?
TO: Ja. Natürlich. Kishaba Sensei lehrte mich jede Menge Kata, Techniken und Geschichte, aber technisch gesehen hatte ich selbst zu forschen und musste viel selbst trainieren. Die Basis bzw. Grundlage sowie 99 % meines Wissens und meiner Technik im Yamanni-ryu habe ich von Kishaba Sensei, aber ich musste viel für mich selbst trainieren.

DT: Die meisten von uns sind daran gewöhnt, mit Wissen „gefüttert“ zu werden. Können Sie uns berichten, wie Kishaba Sensei Ihnen Sakugawa-no-kon beibrachte?
TO: Licht brannte in seiner Veranda aber dennoch war es sehr dunkel. Da wünschte ich, dass ich sehen konnte, was er gemacht hat, aber ich konnte dem Geräusch seines Bos folgen und spürte was er gerade tat. Er sagte mir aber was zu tun sei. Als er das erste Mal meine Kata kontrollierte, war diese sehr verschieden von seiner. Ich denke, danach zeigte er sie für mich langsamer.

DT: Zu dieser Zeit gab es keine Grund- oder Mittelstufen-Katas. Man ging von der Suuji-no-kon direkt zu Sakugawa-no-kon über. Ist das der Grund dafür, weshalb Sie denken, dass es heute notwendig ist, mehr Grundkatas zu entwickeln, um die Studenten langsam an den Yamanni-ryu-Stil heran zu führen?
TO: Richtig. Was die Ryubi-no-kon angeht, so gab es bereits eine Grundkata mit diesem Namen, aber sie funktionierte nicht. Als ich in den USA lehrte, musste ich eine einfache Katas entwickeln. Sie wissen wie schwer Suuji-no-kon ist, obwohl es einfach aussieht. Ich passte die existierende Ryubi-no-kon an die Yamanni-ryu an und zeigte dies Kishaba Sensei. Er stimmte zu, weil er wusste, dass die okinawanischen Katas zu schwierig waren und wir brauchten Einführungskatas.

DT: Lehrte Sie Kishaba Sensei auch zweitrangige Waffen oder mussten Sie sich das selbständig aneignen?
TO: Er hat uns nie die kleineren Waffen beigebracht. Er sagte, es gab nur Katas für Bojutsu und Karate in der okinawanischen Kampfkunst. Alles andere (Sai, Tonfa, usw.) mussten wir uns selbst aneignen.

DT: Können Sie uns erzählen, wie Kishaba Sensei Ihnen das Saijutsu beibrachte?
TO: Eines Tages habe ich mir ein Paar Sai bestellt, die eine gute Form besaßen und gut in der Hand lagen. Ich brachte sie zu Senseis Haus und bat ihn mich zu lehren. Ich wusste, dass es einen Weg geben muss, die Waffen zu beherrschen (obwohl es dafür keine Kata gab). Sensei gefielen diese Sais sehr, also nahm er sie und ging die Treppe nach oben zu unserem regulären Bojutsu-Training. Auf halber Strecke, noch auf der Treppe, drehte er sich um und schwang die Waffe knapp vor mein Gesicht und sagte: „So musst du das Sai schwingen“.
Das war das einzige Mal, dass er mir das zeigte. Er sagte, solange es um die kleinen Waffen geht, müsste ich mir alles selbst aneignen. Und das tat ich dann auch.

DT: Wann sind Sie in die USA gekommen?
TO: Das war 1978. Ich kam, weil einer meiner Karate Sempai, der ein Dojo in Kalifornien hatte, verstorben war. Sie brauchten einen Ersatz-Instruktor. Also kam ich.

DT: Als Sie hierher kamen, haben Sie sofort damit begonnen, Yamanni-ryu zu lehren?
TO: Fünf Jahre lang, nach meiner Ankunft in den Staaten, lehrte ich nur Karate. Karate stand ganz oben auf dem Stundenplan, weil ich das Gefühl hatte, dass Bojutsu etwas war, das ich nur für mich tat. Ich zeigte dies niemandem bis zu dem Tag, an dem ich zu einem Turnier gefahren bin und gesehen habe, wie man Bojutsu praktiziert hat. Jemand bat mich um eine Demonstration und als ich das tat, waren die Leute sehr überrascht, wie mein Stil sich von ihnen unterschied. Das Interesse wurde bei ihnen geweckt und das war der Punkt, an dem ich begann Yamanni-ryu zu lehren.

DT: Es ist seitdem schon eine Weile vergangen! Sind Sie mit dem Fundament Ihrer Arbeit zufrieden?
TO: Soweit ich das Yamanni-ryu der Öffentlichkeit bekannt machen wollte, habe ich der okinawanischen Kampfkunst einen guten Dienst erwiesen. Viele Leute sagen, das Karate hat sich in den modernen Zeiten stark gewandelt. Die alten Kobudo-Künste taten dies nicht. Ich hoffe, dass die Leute durch Yamanni-ryu einen Einblick in das alte Karate erhalten. Ich weiß nicht, ob ich dies gut gemacht habe. Vielleicht gibt es eine Person, die den Amerikanern mehr beibringen und das Yamanni-ryu populärer machen kann, jemand, der das Niveau der Leute in den Kampfkünsten mehr anzuheben vermag, als ich. Ich weiß nur, ich tue mein bestes. Aber ich bin sehr glücklich mit dem was ich tue und was ich sehe. Dadurch gibt es einige Leute, die wirklich ernsthaft und mit Achtung das Yamanni-ryu lernen wollen und das macht mich sehr glücklich.

DT: Sie haben Seminare im Ausland gegeben. Kürzlich sind Sie in Frankreich gewesen. Glauben Sie, dass Yamanni-ryu international auf gute Resonanz stoßen wird?
TO: Ich denke ja. Die Leute in anderen Ländern möchten Yamanni-ryu lernen, aber es ist schwer für sie geeignete Ausbilder zu finden. Ich hatte Glück letzten Monat nach Frankreich eingeladen zu werden. Das war das erste Mal, dass Yamanni-ryu der Öffentlichkeit in Europa vorgestellt wurde.

DT: Was erhoffen Sie sich für die Zukunft? Sie haben begonnen, Kendo Bogu (Schutzrüstung) zum Üben von Kumibo im Wettkampf zu verwenden. Möchten Sie dies als Element im Yamanni-ryu Lehrplan aufnehmen?
TO: Die Einführung von Kumibo und Mittelstufen-Katas war nicht meine Idee, sondern viel mehr Ausdruck Kishaba Sensei’s Willens. Er forderte das Kumibo-Training, aber die technische Durchführung war meine Arbeit. Für die Zukunft des Yamanni-ryu glaube ich, dass der Sport / Wettkampf-Aspekt es bis zu einem gewissen Grade für die Öffentlichkeit einfacher macht. Aber ab einem höheren Level werden die Leute wohl die Kampfkunst lernen müssen. Wenn wir jedoch ausschließlich die Kampfkunst lernen, wird es den Leuten möglicherweise nicht gelingen Yamanni-ryu zu meistern und es könnte ganz verschwinden.

DT: Vielen Dank, Sensei, für dieses Interview und dass Sie Ihre Ansicht mit uns geteilt haben.




Dieser Text wurde aus der englischen Sprache von Roberto Romero mit Hilfe seiner fortgeschrittenen Schüler (Mike, Henry, Marcus, Alexander, Sebastian, Anne) übersetzt.

Quelle: www.oshirodojo.com/karate.html

© 2012 Florian Fischer

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