Kobujutsu

YamanniRyuKanji

Im Yamanni-Ryu Kobudo (auch Yamane-Chinen-Ryu) steht der Umgang mit häuslich bzw. land­wirt­schaftlich anmutenden Gegen­ständen, vornehmlich dem Langstock (Bo) und den Sai im Vordergrund. Die Sai wurden bereits früh in China als Waffe eingesetzt und kamen vermutlich aufgrund der frühen Handelsbeziehungen beider Länder nach Okinawa. Eine These zu den Ursprüngen des Karate und Kobudo auf Okinawa geht von einer Übersiedlung einiger chinesischer Familien aus, welche dann ihrerseits bedeutende Impulse auf die bestehende, einheimische Kampfkunst lieferten. 
Zur Hauptwaffe des Kobudo auf Okinawa hat sich der Bo entwickelt. Die anderen Waffen wie Kama, Nunchaku, Tonfa usw. spielten eine untergeordnetere Rolle. Dies sieht man auch daran, dass Kata namentlich nur für den Bo bis auf Meister Kanga »Tode« Sakugawa (ca 1730-1815) zurückgehend überliefert worden sind (z.B. Sakugawa no kun). Die Kata der anderen Kobudowaffen sind im Vergleich zu den Bokata eher neueren Datums. Diese Erkenntnis bekräftigt die Bedeutung, die speziell dem Bo zugemessen wurde. 
Das Yamanni-Ryu ist wohl einer der ältesten Kobudostile Okinawas, welcher von Shihan Toshihiro Oshiro in seiner Reinform erlernt wurde und nun vermittelt wird. Zeitweilig galt das Yamanni-Ryu als ausgestorben. Dies war ein Irrtum. Es wurde öffentlich lediglich eine Zeit lang nicht gezeigt. Sakugawa nimmt eine der wenigen bekannten Hauptrollen in den Anfängen der Ahnentafeln des okinawischen Karate und Kobudo ein. Er wurde auch »Tode« Sakugawa in Anerkennung seines Könnens im Tode (China-Hand) genannt, welches im 20. Jahrhundert dann in Karate (Leere Hand) umbenannt wurde. Es liegt nahe, dass er bereits das Tode (Karate) und das Kobudo aufeinander abgestimmt hat. Angehörig war er der Satonushi Klasse und gehörte damit zur Oberschicht der okinawischen Bevölkerung. Nachdem Meister Kushanku um 1750 in Okinawa ankam wurde Sakugawa dessen Schüler. Das Yamanni-Ryu gilt als Ursprungsstil des okinawischen Kobudo aus dem später weitere Kobudostile hervorgingen.



Bewaffnet und unbewaffnet hängt zusammen

Es ist davon auszugehen, dass sich der waffenlosen Kampf aus dem bewaffneten Kampf abgeleitet hat. Hat man die Möglichkeit, in einer Notwehrsituation einen Gegenstand als Waffe einzusetzen, dann sollte man dies tun. Im Idealfall kann man die Waffe oder ihre Vorzüge vor dem Gegner verbergen und überraschend einsetzen. Dieses Prinzp findet sich auch im Yamanni-Ryu wieder. Hat man jedoch keine Waffe als Hilfsmittel zur Hand und gibt es keinen anderen Ausweg, dann muß man sich unbewaffnet zur Wehr setzen. Die unbewaffneten Kampftechniken besitzen eine Verbindung zu den bewaffneten Kampftechniken, aus denen sie hervorgingen. Hier spielt speziell für die Shorin-Ryu Linie auch der Schwertkampf eine Rolle und anhand des Sai- und Bohandlings werden Parallelen sichtbar. 
Karate und Kobudo bilden für uns eine symbiotische Einheit. Von vielen der bekannten Karatemeister um 1920 weiß man, dass diese ebenfalls den Umgang mit dem Langstock (Bo) trainiert haben. Für uns ist es ein sehr bedeutsames Merkmal des okinawischen Karate und Kobudo, dass das Training des einen auch das Vorankommen und die Geschicklichkeit im anderen fördert.

Geschichte des Yamanni-Ryu

Das Yamanni-Ryu geht auf Chinen Pechin zurück, dessen Nachfolge Sanda Chinen antrat. Chinen Pechin selbst war Schüler der Karatelegende Kanga »Tode« Sakugawa (ca 1730-1815). Sakugawa lernte Karate beim ebenso legendären Meister Kusanku und studierte Bojutsu in China. So ist es nicht verwunderlich, dass bereits Sakugawa Karate- und Botechnik in Zusammenhang miteinander brachte. Direkt auf Kusanku (auch Kwanku oder Kushanku genannt) geht eine sehr bedeutsame Kata des Shorin-Ryu Karate zurück, nämlich die Kushanku (Kanku-Dai im Shotokan). 
Jüngster direkter Stilerbe im Familienstammbaum des Yamanni-Ryu war Masami Chinen (1898-1976), Sohn von Sanda Chinen (1846 – 1928). Sanda Chinen wird die Entwicklung der im Kobudo sehr bekannten »Shuji (oder Suuji bzw. Shushi) no Kun« Kata zugeschrieben. Zum Namen »Yamanni, Yamani oder auch Yamane« kam der Stil, da Masami Chinen diesen in Anerkennung der Leistungen seines Vaters so benannte. Sein Vater, Masami Chinen war nämlich auch als Yamane Tanmei bzw. Yamani Usemei bekannt. Nach dem Tod Masami Chinens haben seine beiden Schüler Higa Seitoku and Kishaba Chogi das Yamanni-Ryu weiterhin gelehrt. Über Kishaba Sensei ist auch Shihan Toshihiro Oshiro zum Yamanni-Ryu gekommen.

Auch in den bekannten Shorin Karate-Stil Matsubayashi-Ryu fand das Yamanni-Ryu eine zeitweilige Einkehr. Begründer des Matsubayashi-Ryu ist der bekannte Buchautor Shoshin Nagamine. Kyan Shinei war ein sehr guter Freund Nagamines und von Anfang an ebenfalls im Matsubayashi-Ryu involviert. Kyan ist ein direkter Schüler von Oshiro Chojo (1887 – 1935) gewesen. Oshiro Chojo war wiederum Schüler der Yamanni-Ryu Legende Chinen Sanda. Im Matsubayashi-Ryu konzentrierten sich die Schüler und Lehrer jedoch offenbar eher auf das Karate während das Kobudo sehr in den Hintergrund gerückt wurde.

Bo und Sai

Von den bekannten Kobudowaffen trainieren wir intensiv mit dem hölzernen Langstock »Bo« und den aus Eisen hergestellten Sai. Andere Kobudowaffen wie Tonfa, Nunchaku oder Kama werden bei uns im Dojounterricht nicht gelehrt, da ihr direkter Nutzen für die Bewegungsdynamik und auch für das waffenlose Karate nicht so groß ist. Der Bo ist die Hauptwaffe des Kobudo und kaum ein okinawischer Meister trainierte früher neben dem Karate nicht auch noch den Umgang mit dem Bo.

Durch das sehr eng am Körper stattfindende Handling der Kobudowaffen im Yamanni-Ryu wird der eigene Körper geschützt und der benötigte, seitliche Bewegungsradius klein gehalten. Die Regel des Yamanni-Ryu, dass der eigene Körper dem Bo auf seinen engen Bahnen nie im Weg stehen darf erfordert die Entwicklung eines sehr geschmeidigen Körpers. Wie tiefgreifend sich dieser Grundsatz auf die Körpermotorik auswirkt, erkennt man schnell, wenn man mit dem Üben beginnt. Der starre Bo wird sich mit der Zeit mehr und mehr leicht und flexibel anfühlen. Seine Bewegung wird im Idealfall, ohne ausschweifende Armbewegungen benutzen zu müssen, äußerst dynamisch durch den eigenen Körperkern angetrieben. Diese Dynamik ist typisch für das Yamanni-Ryu und benötigt fortwährendes Training.


Bauern gegen Samurai?

Es ist oft zu lesen, dass sich okinawische Bauern mit ihren eigentümlichen einfachen Waffen einfallenden Samurai erfolgreich in den Weg gestellt hätten. Historisch betrachtet, ist es trotz der landwirtschaftlichen Anmutung der Kobudowaffen sehr unwahrscheinlich, dass die ärmliche landwirtschaftlich tätige Bevölkerung Zeit, Geld und Muße hatte, sich neben der harten Arbeit auch noch in den Kampfkünsten zu üben. Aussagen in Karatebüchern, wonach sich wehrhafte Bauernarmeen aufgetan haben, um feindlich gesinnte  Samurai zu bekämpfen, sind mit Sicherheit falsch. Die Sai hatten als Werkzeug im landwirtschaftlichen Bereich überhaupt keine Verwendung. Sehr wahrscheinlich kamen sie von China nach Okinawa, nachdem  sie in China bereits längere Zeit als Waffe eingesetzt wurden.

Besonderheit der Waffen des Yamanni-Ryu – Anpassung der Waffen an den Körper

Bo und Sai sind dem Körper des Lernenden angepasst um die sehr fließende Bewegungsdynamik verwirklichen zu können, die das Yamanni-Ryu ausmacht. Die Beschaffenheit der Kobudowaffen soll dazu brauchbar sein, die eigene Körperdynamik und Motorik effektiv zu schulen und so auch weitere Fortschritte im Karate ermöglichen. Die im Yamanni-Ryu verwendeten Bo sind unkonisch (haben also einen gleichbleibenden Durchmesser), denn es heißt »der Bo soll zwischen den Händen leben«. Welches Ende des Bo länger und welches kürzer gehalten wird, wird dazu je nach den Erfordernissen der Situation fliessend verändert. Die Hände passen die eingesetzte Bolänge der jeweiligen Technik sowie der Distanz zum Gegner fliessend an. Das lange Ende des Bo wird »in den Kampf« geschickt, so dass man den eigenen Körper weiter hinten halten kann. Hier besteht eine Analogie zur Haltung eines Schwertes. Der Bo wird also nicht permanent durch die Handhaltung in drei gleichlange Teile gedrittelt. 

In vielen Yamanni-Ryu typischen Haltungen, kann die Länge des Bo nicht vom Gegenüber eingeschätzt werden. Ein weiteres Prinzip des Yamanni-Ryu ist es, dass kein Schlag in einer Art eingerasteten Endphase endet, sondern der Bo wird sofort wieder einsatzbereit für eine Folgetechnik zurückgezogen oder weiter geführt. So hat man auch bei einem geglückten Block des Gegners sofort wieder neue Möglichkeiten den Angriff fliessend fort zu führen.

Durch den Umgang mit dem Bo wird nicht nur die Entwicklung einer besonders flinken und weichen Beinarbeit unterstützt, auch die Faustführung bei Karatetechniken wird positiv beeinflußt. Ein sehr flexibler Körper entwickelt sich, wenn man den starren Bo zu beherrschen lernt.  Durch das Waffentraining wurde zusammen mit dem kampfkunsttechnischen Aspekt einhergehend eine Art „Gerätetraining“ für die Ausbildung und Kräftigung der Muskeln und Gelenke geschaffen. Auch die Greifmuskulatur oder »Fingerkraft« wird gestärkt.

Die Sai des Yamanni-Ryu sind nicht so massiv wie in anderen Kobudostilen üblich. Massive Sai, wie sie heute als »Standardausführung« in den Geschäften erhältlich sind, wurden früher vermutlich eher für das sogenannte »Hoju-Undo« (Krafttrainig) verwendet, jedoch weniger für die Vorbereitung auf die Bewegung des Kampfes. Im Kampf sollten sie leicht zu verbergen und blitzschnell einzusetzen sein. Die Sai sind also leicht und schlank gehalten, was einen sehr dynamischen und flexiblen Umgang mit diesen Waffen erlaubt, ohne dem eigenen Körper zu schaden. So kann man durch Saitraining kräftige und flinke Handgelenke und Arme entwickeln. Die Flexibitlität und die daraus nutzbare Kraft der Handgelenke und Unterarme wird verstärkt. Saitraining wirkt sich also positiv auf die Effektivität von Schlag- und Blocktechniken des Karate aus. So können auch bei kurzen Wegen der Arme kräftige Blocks erfolgen. Eine Überreizung von Gelenken und Muskeln tritt beim Umgang mit diesen Sai somit trotz dynamischer Bewegungsart nicht auf. 

Sai können sehr gut versteckt gehalten werden. Aus der versteckten Haltung können die Sai dann blitzschnell eingesetzt und wieder zurückgezogen werden. Die okinawischen Meister schätzten besonders diese nützliche Eigenschaft der Sai. Die Techniken der Sai-Kata zeigen, wie die Sai unsere Arme und Fäuste verstärken, schützen oder verlängern können. Ursprünglich waren Sai teilweise mit spitzen Enden versehen und wurden auch zum Werfen benutzt, um den Gegner noch aus sicherer Entfernung verletzen oder abschrecken zu können. Auch die Kata enthalten Wurftechniken. Besonders, wenn sich ein besser bewaffneter Gegner näherte, war sicherlich jede Chance willkommen, den Kampf frühzeitig entscheiden oder abwenden zu können. Daher rührt auch der Brauch, drei Sai mit sich zu tragen. So hatte man für jede Hand noch ein Sai, nachdem man eines bereits geworfen hatte.

In die Kata eingebettetes Bunkai

Die Kata des Yamanni-Ryu bestehen zum grossen Teil aus Bewegungen, die man mit den entsprechenden Waffen, aber ebenso unbewaffnet ausführen kann. Kata sind so aufgebaut, dass Sai oder Bo automatisch auch als »gegnerische Waffen« oder »Gegner« fungieren. Sie kommen auf uns zu und unser Körper muss sich beim Vorgehen entsprechend anpassen, um nicht getroffen zu werden. Beispiel ist die Spitze der zurückkommenden Saigabel bei Ausführung von Zuki mit Sai im Vorwärtsgehen. Die Spitze wird nicht um den Körper herum geführt, sondern der Körper muss schmal vorbewegt werden. Dies fördert das Bewusstsein für Körperkontrolle hinsichtlich Seichusen und Enbusen auch der waffenlosen Karatekata. Ein flexibler Körper soll entwickelt werden, insbesondere eine spezielle Fähigkeit zur Wahrnehmung, Kontrolle, Trennung und getrennten Ansteuerung der Körperhälften und Körperteile. Der Körper soll lernen, nur das zu bewegen, was bewegt werden muß und keine vorzeitigen oder überflüssigen Bewegungen auszuführen. Ein Gegner soll überrascht werden, indem man durch keinerlei überflüssige Anzeichen zeigt, was man tut oder tun will. Die wichtigen Bewegungen sollen verborgen werden, z.B. hinter anderen Bewegungen. Dies wiederum sind grundlegende Fertigkeiten für die Ausübung eines effektiven Karate. Manche Techniken sehen den eigenen Bo auch als Gegner an, den man sich hilfsweise auch als „länglichen Gegenstand“ vorstellen kann. Es ist sehr wichtig, dass die Kraft, die den Bo bewegt, nicht größtenteils aus den Armen kommt. Analog kann man einen Gegner nicht einfach aus der eigenen Armkraft heraus werfen. Am Weg und am Geräusch des bewegten Bo kann man Rückschlüsse auf die eigene Körperarbeit führen. Auch im Karate will man möglichst viel Kraft aus der gesamten Körpermotorik schöpfen und nicht lediglich aus den Armen und Beinen. Das Training mit Bo und Sai hat einen hohen Stellenwert bei vielen alten okinawischen Meistern genossen.